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Editorial
Nicht vor meiner Haustür!
Nicht nur Logistikzentren, Windparks und Bahntrassen sind vielen Bürgern ein heftig zu bekämp-
fendes Unding. Auch die Schnell-Lieferdienste für Lebensmittel (z.B. Flink oder Gorillas) bekommen
mittlerweile den Volkszorn zu spüren. Deren Standorte befinden sich nämlich dort, wo die Kunden
schnell zu erreichen sind: in Wohngebieten.
In den sogenannten Dark Stores (die diese Bezeichnung wegen der mit dunklen Folien zugeklebten
Fensterfront erhielten) der Lieferdienste werden die online bestellten Waren kommissioniert und
von Fahrrad- oder Motorradkurieren ausgeliefert. Die Lieferzeiten sind rasant: Nur zehn Minuten
nach der Bestellung soll der Expressbote an der Wohnungstür klingeln, so beispielsweise das Goril-
las-Versprechen.
Das funktioniert nur, wenn die Dark Stores in den Wohnquartieren angesiedelt sind. Doch diese
Standortwahl erweist sich zunehmend als problematisch. In den niederländischen Städten Amster-
dam und Rotterdam häuften sich zuletzt die Beschwerden über die Express-Lieferdienste – weshalb
nun zunächst Rotterdam die Distributionsstandorte innerhalb von Wohnbereichen verboten hat.
Die Anwohner und Stadträte reiben sich daran, wie die Lieferdienste ihr Business abwickeln: Die Ar-
mada der Kuriere blockiere Gehwege, mache Lärm und produziere Unfälle im Verkehr. So begründete
kürzlich die Stadt Rotterdam das Dark Store-Verbot in Wohngebieten. In einem traditionell logistik-
freundlichen Land wie den Niederlanden ist das bemerkenswert.
Mit den Lieferdienst Standorten scheint es so zu laufen wie mit Gewerbegebieten, Windparks,
Strom- und Bahntrassen: Niemand hat etwas gegen sie, so lange sie nicht stören und das eigene
Umfeld weiträumig verschonen. „Not in my backyard – nicht in meinem Hinterhof!“ So nennt man
eine Haltung, die sich übrigens nicht nur im dicht besiedelten Europa, sondern in fast allen entwi-
ckelten Industrieländern weltweit mehr oder weniger lautstark artikuliert.
Es sind beim besten Willen keine Fortschrittsfeinde, die sich protestierend auf die Hinterbeine stel-
len, sondern ganz normale Bürger, die einfach nur ihre Ruhe haben oder ihre oft teuer bezahlte
schöne Aussicht genießen möchten – und das ohne störende Faktoren und Nebengeräusche. Das
ist einerseits verständlich, kann aber Entwicklungen wie die geplante Verkehrs- und Energiewende
empfindlich in die Länge ziehen.
Das müsste insbesondere dem auf schnellen Fortschritt getrimmten Wirtschafts- und Klimaminister
Robert Habeck ein Dorn im Auge sein. Schafft er es, die Genehmigungsverfahren für neue Strom-
und Bahntrassen, für neue Windparkstandorte und Gewerbegebiete deutlich zu verkürzen, indem er
beispielsweise die Bürgerbeteiligung zurückfährt? Die Frage ist schon allein deshalb spannend, weil
er sich mit Teilen der eigenen Wählerschaft anlegen müsste, um diesbezüglich erfolgreich zu sein.
Und sonst? Corona sorgt für Stress, wenn auch vorübergehend etwas weniger. Die Energiepreise
steigen, nicht zuletzt wegen des Ukraine-Krieges. Das wird Unternehmen über Gebühr belasten und
zur Aufgabe oder Verlagerung ins Ausland zwingen. Die Sorgen lassen einfach nicht nach. Hoffen wir
das Beste. Bleiben Sie gesund und friedlich!
Ihr
Thomas Pool | Chefredakteur
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